27.12.2021
Leserbrief
zu: „Stoße mich daran, dass kleine Richterlein sich hinstellen und 2G im Einzelhandel kippen“, „WELT“ vom 27.12.2021
Ja, in einer Demokratie darf man Gerichtsurteile kritisieren. Gleichsam ist die Unabhängigkeit der Justiz eines der höchsten Güter, die wir als gewachsener Freiheitsstaat zu verteidigen haben. Deshalb ist es vollkommen richtig, dass Minister Buschmann dem Weltärzte-Präsidenten diesen Umstand nach dessen Kritik an Entscheidungen deutscher Richter über die Zulässigkeit von 2G-Regeln nochmals deutlich vor Augen hält.
Der Respekt vor unserem Rechtsstaat gebietet es ausdrücklich, auch Beschlüsse anzunehmen, die man aus Sicht eines Mediziners in der derzeitigen Lage nicht verstehen kann. Doch es liegt nicht zuletzt an der Inkonsistenz der Meinungen aus Montgomerys Zunft, dass Beschränkungen aufgehoben werden. Letztlich ist die Rechtsprechung auf die fachkundige Expertise angewiesen, die sich gerade in diesen Tagen als sehr unstet erweist. Weder Epidemiologen, noch Infektiologen sind sich über das pandemische Geschehen einig.
Worauf soll sich ein fachfremder Jurist schlussendlich stützen, wenn nicht einmal Intensiv- und Hausärzte die Lage einhellig beurteilen? Gleichsam macht die Individualität der Urteile deutlich, dass sich Gerichte mit großer Besonnenheit und Differenziert mit der Frage und Abwägung der Einschränkung von Grundrechten und den der jeweiligen Regionalität verhältnismäßig angepassten und notwendigen wie vertretbaren Maßnahmen auseinandersetzen, die manche Teile der Politik im Gießkannenprinzip verteilen. Richter haben zu prüfen, ob der Staat angemessene Schritte ergreift, um die Bevölkerung einerseits zu schützen – und andererseits die Freiheitsrechte jedes Menschen so weit wie möglich aufrechtzuerhalten.
Dass sich manch ein Arzt aus seiner Perspektive heraus beständig härtere Einschnitte wünscht, mag für ihn nachvollziehbar sein. Gleichermaßen hat er dann aber auch zu akzeptieren, dass es Aufgabe der Justiz ist, gewissem Aktionismus Einhalt zu gebieten. In der Manie der vierten Welle und des bevorstehenden Überwiegens der Omikron-Variante sind viele Forderungen überzogen und ideologisch-wissenschaftlich aufgeladen. Es braucht Instanzen, die verhindern, dass sich Politiker zu Getriebenen der Panikschieber machen und in ihrem Gestaltungsspielraum oftmals über die Stränge schlagen.
Montgomery täte gut daran, vor der eigenen Haustür zu kehren. Denn auch seine Verlautbarungen sind von dauernder Reflexhaftigkeit geprägt. Doch sie hilft uns nicht weiter. Während viele Ärztevertreter den Menschen eine Impfpflicht aufbürden möchten, so verschreiben die Gerichte einigen Mahnern und Warnern dieser Tage Besonnenheit und Bedacht. So funktioniert ein Verfassungsstaat – und ich bin froh darüber.
Dennis Riehle - 11:35:23 @ Gesellschaft